In der indischen Philosophie wird in der Regel zwischen zwei Hauptrichtungen unterschieden: den Astika (orthodox oder theistisch) und den Nastika-Philosophien (unorthodox oder atheistisch). Die buddhistische, die Jain- und die Carvaka-Philosophie gelten als unorthodox, da sie die Veden in ihrer Funktion als Lehr- und Erkenntnismittel nicht als Autorität anerkennen. Die Veden werden von ihren Anhängern als ursprünglich von Gott stammend angesehen. Aus traditioneller indischer Perspektive wird daher jede philosophische Schule, die nicht auf den Veden beruht, selbst wenn sie Gott oder Devas akzeptiert, als atheistisch angesehen.
Die sechs orthodoxen Schulen der indischen Philosophie
Die Astika-Schulen, ursprünglich als Sanatana Dharma bezeichnet, werden heute unter dem Begriff Hinduismus zusammengefasst. Zu ihnen zählen sechs Philosophien – Nyaya, Vaisheshika, Yoga, Sankhya, Purva Mimamsa und Vedanta. Nyaya, Vaisheshika, Yoga und Sankhya akzeptieren die Autorität der Veden, leiten aber ihre philosophischen Prinzipien nicht von den Aussagen der Veden ab. Die Purva Mimamsa- und die Vedanta-Philosophie stützen sich jedoch vor allem auf die Inhalte der Veden. Die vier Veden, Rig-, Yajur-, Sama- und Artharvaveda, gliedern sich jeweils in vier Teile: Samhita, Brahmana, Aranyaka und Upanishad. Die ersten beiden Teile befassen sich mit Ritualen. In den Aranyakas finden wir eine Umorientierung von Ritualen hin zur Philosophie, die ihren Höhepunkt in den Upanishaden findet. Die Purva Mimamsa-Philosophie (wörtlich „die frühere Betrachtung“) stützt ihre Grundsätze auf die vorangegangenen (purva) Teile der Veden, die Samhitas und Brahmanas. Die Vedanta-Philosophie bezieht sich auf die späteren Teile (wie die Upanishaden) und wird daher auch Uttara Mimansa oder „spätere Betrachtung“ genannt.
Die sechs philosophischen Schulen der Astika-Philosophien, die gemeinhin als Hinduismus bezeichnet werden, umfassen:
1. Sankhya. Der Kerngedanke dieser Philosophie ist, dass ein Lebewesen von Unwissenheit (d. h. Ignoranz in Bezug auf das wahre Selbst) befreit werden kann, wenn es die vierundzwanzig Elemente versteht, aus denen die Materie besteht. Es gibt zwei Strömungen der Sankhya-Philosophie, von denen eine theistischer und die andere atheistischer Natur ist.
2. Yoga. In dieser philosophischen Lehre wird der Geist als Ursache für die Gebundenheit an die materielle Welt und gleichzeitig auch als Mittel zur Befreiung angesehen. Durch Meditation soll der Geist beherrscht und die Materie transzendiert werden. Der indische Gelehrte Patanjali ist der Begründer dieser philosophischen Schule.
3. Nyaya. Schule der Logik. Gemäß der Nyaya-Philosophie, die von Gautama Muni begründet wurde, gibt es sechzehn Kategorien (Padarthas) und vier Mittel der Erkenntnis (Pramanas) gibt. Mithilfe dieses Wissens kann die höchste Wirklichkeit erkannt und Befreiung erlangt werden.
4. Vaisheshika. Diese Schule der Philosophie wurde von dem Gelehrten Kanada begründet. Er lehrte über die sieben Padarthas oder ontologischen Entitäten, deren Verstehen zur Selbstverwirklichung führt.
5. Purva Mimamsa. Der Kerngedanke dieser Philosophie von Jaimini beeinhaltet, dass ein Mensch Vollkommenheit erlangt, wenn er Opfer gemäß den Anordnungen der Veden darbringt.
6. Uttara Mimamsa. Diese philosophische Schule ist allgemein als Vedanta („die höchste Betrachtung des Wissens“) bekannt. Ihre Schriften wurden von Vedavyasa dem Guru von Jaimini verfasst. In der Uttara Mimamsa-Philosophie gibt es zwei Strömungen, eine persönlichkeitsphilosophische und eine unpersönlichkeitsphilosophische Ausrichtung. In der ersteren führt die Hingabe an einen persönlichen Gott zur Vollkommenheit. In der unpersönlichkeitsphilosophischen Strömung ist es das Ziel, sich selbst als die allesdurchdringende unpersönliche Absolute Wahrheit zu erkennen.
Da sich einige der orthodoxen Philosophien gegenseitig ergänzen, werden die sechs Schulen grundsätzlich in drei Gruppen zusammengefasst. Dabei gehören jeweils paarweise Sankhya und Yoga, Nyaya und Vaisheshika sowie Purva Mimamsa und Vedanta zusammen. Die Vedanta-Philosophie wird jedoch weithin als führend unter den sechs philosophischen Schulen angesehen, da sie sich ausschließlich mit der absoluten Wahrheit befasst und die einzige Schule ist, die bis in die Gegenwart ihre Relevanz beibehalten hat, auch wenn Yoga heute ebenfalls beliebt ist. Es gibt verschiedene Schulen innerhalb der Vedanta Philosophie, die sich ebenfalls entweder einer unpersönlichkeitsphilosophischen oder einer persönlichkeitsphilosophischen Ausrichtung zuordnen lassen.
Persönlichkeits- und Unpersönlichkeitsphilosophien
Ursprünglich waren die Veden zu umfangreich, als dass ein Mensch sie in einem einzigen Leben hätte studieren und verinnerlichen können, geschweige denn ihre schlussfolgernden Aussagen hätte erfassen können. Deshalb fasste Vyasa, der Verfasser der Veden, ihre Essenz in sutras, kurzen und prägnant formulierten Versen, zusammen. Die Vedanta-Sutras, die auch als Brahma-Sutras bekannt sind, stellen somit die Essenz der vedischen Weisheit dar.
Verschiedene Gelehrte haben sich dem Verstehen und Erklären der Vedanta-Sutras gewidmet und ausführliche Kommentare zu diesem Grundtext der Vedanta-Philosophie verfasst. Diese Kommentatoren lassen sich zwei allgemeinen philosophischen Grundorientierungen zuordnen — dem Advaita-vada (Unpersönlichkeitsdenken bzw. Nicht-Dualismus) und dem Dvaita-vada (Personalistisches Denken).
Das Advaita-vada interpretiert die sutras dahingehend, dass die Absolute Wahrheit ohne jede Form ist. Das Absolute, das keine persönlichen Eigenschaften besitzt, ist ein ewig bewusster Daseinszustand, dem alles Manifestierte, was durch Vielfalt gekennzeichnet ist, untergeordnet ist.
Dieses Advaita-vada Konzept wird als Unpersönlichkeitsphilosophie bezeichnet. Der Leitsatz des Advaita-vada ist „brahma satyam jagan mithya“ und bedeutet, dass die unpersönliche Realität die einzige Wahrheit und alles andere eine Illusion ist. Im Dvaita-vada werden dieselben sutras interpretiert, um zum gegenteiligen Schluss zu kommen. Hier ist die Absolute Wahrheit eine Person. Sie hat eine spirituelle Form und viele vielfältige Eigenschaften. Der oben beschriebene unpersönliche Aspekt dieser Absoluten Wahrheit ist nach Ansicht der Persönlichkeitsanhänger lediglich das strahlende Licht, das vom transzendentalen Körper dieser Absoluten Person ausgeht. Dieses Konzept einer absoluten Person, welche die Absoluten Wahrheit darstellt, wird von den Vaishnavas vertreten. Auch hier gibt es verschiedene Richtungen. Das Jiva Institut unter der Schirmherrschaft von Babaji Satyanarayana Dasa vertritt die Gaudiya Vaishnava Philosophie des acintya bheda-abheda–die mit Logik nicht ergründbare gleichzeitige Vielfalt und Verschiedenheit in Einheit.