Die traditionelle indische Gesellschaft wurde von den Weisen Indiens gestaltet. Diese hatten eine tiefergehende und ganzheitliche Sicht der Welt und der Lebensprinzipien. Gewöhnliche Menschen erlangen Wissen über äußere kognitive Sinne, Jñānendriya, und durch den Verstand. Die alten Denker Indiens, bekannt als Ṛṣis und Munis, erlangten Wissen jedoch auf andere Weise: durch ṛtambharā prajñā bzw. wahrheitsgetreue Vision (siehe Yoga Sūtra 1.48). Sie erwarben es durch das Ausüben von Tapas und Samādhi. Durch diese Vision erfuhren sie, dass das Universum nach einigen Grundprinzipien, den Ṛtam, funktioniert. Eines der grundlegendsten Ṛtam ist die zyklische Natur der Zeit. Der ganze Kosmos erfährt eine zyklische Wiederholung der Schöpfung, Erhaltung und Auflösung, Sṛṣṭi, Sthiti und Laya. Dies wird ganz am Anfang der Vedānta Sūtra (1.1.2) festgehalten: „Von Ihm gehen Schöpfung, Erhaltung und Auflösung aus” , Janmādyasya Yataḥ. Die gleiche Aussage findet man am Anfang der Śrīmad Bhāgavata Purāṇa, dem letzten Werk von Śrī Vyāsa Deva. Wir kennen dies auch aus eigener Erfahrung aus dem eigenen Leben, alles durchläuft diese drei Phasen. Es handelt sich um das grundlegende Ṛtam bzw. den Rhythmus des Kosmos und von allem darin.
Die Ṛṣis Indiens erkannten, dass die Menschen in Harmonie mit dem Ṛtam leben müssen, um höchstmögliches Glück zu erfahren und Vollkommenheit zu erlangen. Zu diesem Zweck gestalteten sie das Leben auf individueller und sozialer Ebene. Auf individueller Ebene teilten sie das Leben in vier Bereiche auf: Brahmacārī, Gṛhastha, Vānaprastha undSannyāsa. In Anbetracht der menschlichen Lebensspanne von ungefähr einhundert Jahren wiesen sie jeder Lebensphase fünfundzwanzig Jahre zu.
Auf sozialer Ebene entwickelten die Ṛṣis das Konzept der Varṇa. Sie begriffen, dass die Menschen nicht alle gleich sind. Jeder Mensch hat einen einzigartigen Wesenszug oder eine Begabung, das Prakṛti dieser Person. Man schulte eine Person zum Wohl aller entsprechend ihres Prakṛti, um sie dann unter Einsatz ihrer naturgegebenen Fähigkeiten in der Gesellschaft wirken zu lassen. Wenn auch jedes Individuum einzigartig ist, hatten sie hierbei das Verständnis, dass zur Gestaltung der Gesellschaft eine deutliche Gruppenunterteilung erforderlich ist. Diese Gruppen wurden Varṇas genannt. Die Zugehörigkeit zu einer Varṇa wurde nicht durch die Geburt bestimmt, sondern durch die erworbene Natur oder dem Prakṛti des Individuums. Die Ṛṣis konzipierten vier grundsätzliche Varnas, bekannt als, Brāhmana, Kṣatriya, Vaiśya und Śūdra. Jede Gesellschaft, die als organisierte Einheit fungiert, muss diese vier Menschentypen für die Sicherstellung der Versorgung, der weiteren Expansion und des Wohlstands mit einbeziehen. Diese vier Kategorien sind unvermeidbar und entstehen unbewusst in den Gesellschaften dieser Welt. Es waren jedoch indische Denker, die dies erkannten und die Lehre der vier Varṇas weitergaben.
Die Ṛṣis verstanden auch, dass ein Individuum sowie die Gesellschaft im Allgemeinen vier Ziele, Puruṣārtha,anstreben muss, um mit dem Ṛtam oder Rhythmus des Universums im Einklang zu sein. Die vier Puruṣārthas sind: Dharma, Artha, Kāma und Mokṣa. Diese Puruṣārthas sollten durch den grundlegenden Ṛtam von Schöpfung, Erhaltung und Auflösung für Ausgeglichenheit im Leben eines Individuums als auch der Gesellschaft sorgen. Arthaund Kāma dienten der Schöpfung, Dharma diente der Erhaltung und Mokṣa diente der Auflösung, Laya. Vor diesem Hintergrund sagt Śrī Kṛṣṇa, er habe die vier Varṇas in der Gesellschaft begründet ( Gītā 4.13). Dies beschreibt in Kürze die Grundlage, auf der die indische Gesellschaft sich stützte und jahrtausendelang einträchtig wirkte.
Weiterhin erfordert jedes System Aufrechterhaltung und Berichtigungen. In der Geschichte Indiens erschienen viele große Persönlichkeiten, um aus dem Gleichgewicht geratene Dinge wieder richtig zu stellen. In der Tat verkündet Bhagavān Śrī Kṛṣṇa selbst, dass Er sich manifestiert, um die Gesellschaft zu berichtigen, sobald es zu einer Abweichung von der Ordnung kommt ( Gītā 4.7).
Diese Ordnung begann jedoch zu zerfallen, als die indische Gesellschaft von westlichen Streitkräften besetzt wurde, erstmals durch Alexander um 326 v. Chr. Seither durchlebte die Ordnung einen Niedergang. Glücklicherweise war diese Ordnung sehr belastbar. Selbst als Indien um 1192 unter fremde Herrschaft geriet, wurde das Bildungssystem nicht angetastet. Daher überlebte die Ordnung auch unter der lang anhaltenden Herrschaft der Moguln. Der größte Schlag kam jedoch 1850, als die Briten das indische Bildungssystem rücksichtslos verwarfen. Sie ersetzten es selbstsüchtig durch ein westliches Bildungssystem, um Beamte hervorzubringen, die ihnen bei der Beherrschung des riesigen Landes helfen sollten. Tragischerweise beinhaltet das westliche Bildungssystem nicht derlei Einsichten über das menschliche Leben, geschweige denn über das kosmische Ṛtam. Leider wurde selbst nach der Erlangung der Unabhängigkeit Indiens in 1947 das Vermächtnis der Weisen Indiens nicht wiederbelebt. Stattdessen behielt man das übernommene Bildungssystem sowie die Verfassungsform des Westens bei, was für den Geist Indiens völlig unpassend war.
Gegenwärtig sehen wir in der Gesellschaft das Streben nach Artha und Kāma. Es gibt keine Unterweisung über Dharma. Mokṣa ist jenseits aller Vorstellungen. Infolgedessen sehen wir viel Sṛṣṭi bzw. Fertigung. Jeden Tag wird für ein neues Produkt oder eine neuere Version eines vorhandenen Produkts geworben. In der Tat wird der Fortschritt eines Landes nur am BIP (Bruttoinlandsprodukt) gemessen. Zu viel Sṛṣṭi (Schöpfung) schafft natürlich ein Ungleichgewicht in der Gesellschaft. Es gibt kein Konzept, um diese mit Sthiti (Erhaltung) und Laya (Zerstörung) durch das Streben nach Dharma und Mokṣa in Einklang zu bringen. Demnach sehen wir in jedem Land eine Krise, die vorrangig durch eine unausgewogene Wirtschaft verursacht wird. Materielle Dinge werden hergestellt und dann an uns vermarktet. Wir jagen materiellen Dingen hinterher und denken, wir werden auf diese Weise Glück, Akzeptanz, Wertschätzung und Liebe finden. Wir jagen dem wohlstandverheißenderen Job, dem schickeren Auto, dem besseren Haus oder der schöneren Frau hinterher. Es gibt keinen Gegenspieler (Dharma), der uns im Zaum hält. Wir streben danach mehr zu erreichen, besser und schneller zu werden, doch dies steht in keinem Verhältnis zu unserem Prakṛti. Wir vergleichen uns lediglich mit unserem Nachbarn. Fühlen wir uns glücklich, nachdem wir das Erstrebte erreicht haben und es mehr ist als das des Nachbarn? Nein. Zumindest nicht für längere Zeit. Also jagen wir der nächsten Sache hinterher. Das Geld ist uns ausgegangen? Kein Problem! Hierfür haben wir Kreditkarten. Wir jagen weiter, geben Geld aus, sind für kurze Zeit glücklich, um schließlich unseren nächsten Wunsch zu verfolgen. Dieser Ablauf setzt sich fort, obschon wir sehr gut darin sind zu rechtfertigen, dass wir uns nicht in diesem Kreislauf befinden. Wir sind gut darin sehr gute Gründe zu erfinden, warum wir tun, was wir tun. Die Wahrheit siegt jedoch.
Wenn die Menschen keine Schritte unternehmen, um ihr Leben mit dem Ṛtam des Kosmos in Einklang zu bringen, und wenn kein Avatāra in Sicht ist, um es zu berichtigen, greift die Natur ein. Ich denke, dass die Ausbreitung des Corona-Virus der Weg der Natur ist, diesen Kreislauf ins Gleichgewicht zu bringen. Daher ist es kein Wunder, dass sich das Corona-Virus vorrangig auf das BIP eines Landes auswirkt. Wir mögen einen Impfstoff finden, um dem Virus entgegenzuwirken, dies wird jedoch nicht das Grundproblem lösen. Die wirkliche Lösung besteht darin, uns auf das Ṛtam auszurichten. So rät Śrī Kṛṣṇa: „O Arjuna, jener, der im Laufe seines Lebens diesen beschriebenen Kreislauf nicht befolgt, führt ein erbärmliches Leben, das nur die Sinne erfreut. Solch ein Mensch lebt vergebens. “ (Gītā 3.16) Solange die Oberhäupter der Gesellschaft dies nicht durchschauen, muss die Menschheit leiden.
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