Das Gesicht ist nicht der Spiegel des Geistes

von Satyanarayana Dasa


Die Vorstellung des Gesichts als Spiegel des Geistes ist in unserem kulturellen Bewusstsein tief verankert und suggeriert oft, dass der Gesichtsausdruck die inneren Gedanken und Gefühle genau widerspiegelt. In der Hitopadeśa gibt es eine Geschichte, die diese Auffassung bestätigt.

In der Stadt Caṁpaka, in einem von Einsiedlern bewohnten Ashram, wohnte Cūḍākarṇa. Dieser Asket, der für sein einfaches Leben und seine tiefe Meditation im Wald bekannt war, geriet in eine sonderbare Zwickmühle. Eine schelmische Maus plünderte regelmäßig seinen Bettelnapf und fraß sein Essen. Um sein Essen zu schützen, hängte der Einsiedler die Schüssel an einen Haken. Eines Tages besuchte ihn sein alter Freund Vīṇākarṇa. In der Unterhaltung mit seinem Freund wirkte Cūḍākarṇa abwesend, da ihn das aufdringliche Nagetier beschäftigte. Während er seinem Freund zuhörte, schlug er immer wieder mit einem Bambusstock auf den Boden, um die Maus zu vertreiben. Vīṇākarṇa missfiel das Verhalten seines Freundes, und er bemerkte: „Mein lieber Freund, stimmt etwas nicht? Interessierst du dich nicht für das, was ich sage? Du scheinst mit deinen Gedanken woanders zu sein.“ Zur Untermauerung seiner Worte zitierte er einen Vers:

mukhaṁ prasannaṁ vimalā ca dṛṣṭiḥ
kathānurāgo madhurā ca vāṇī
sneho’dhikaḥ sambhrama-darśanañ ca
sadānuraktasya janasya lakṣma

„Ein lächelndes Gesicht, liebevolle Blicke, aufmerksames Zuhören, eine sanfte Stimme, große Zuneigung und wiederholte respektvolle Blicke – dies sind die Bekundungen liebevoller Freundschaft.“

Vīṇākarṇas Worte basieren auf der allgemeinen Auffassung, dass das Gesicht den Zustand des Geistes offenbart. Allerdings reflektiert das Gesicht nicht immer die tiefsten Gedanken und Gefühle einer Person. Während Cūḍākarṇas Reinheit des Herzens dieses intuitive Verstehen unter Freunden ermöglichte, verdeckt die moderne Gesellschaft wahre Emotionen durch eine Fassade oberflächlicher Äußerungen. Viele Menschen verbergen hinter einem vielschichtigen Deckmantel emotionaler Distanz oder gesellschaftlicher Erwartungen ihre echten Gefühle.

Der Bestsellerautor Malcolm Gladwell hat ein modernes Konzept mit Namen „Transparency“ (Transparenz) geprägt. Gladwell zufolge glauben wir, dass das Gesicht einer Person verrät, wie sie sich tatsächlich fühlt. Offenbar handeln wir ständig unbewusst nach diesem Prinzip. Deshalb können Menschen buchstäblich mit einem Mord davonkommen. Aufgrund dieses Prinzips schaffen sie es zu lügen und zu betrügen, ohne dass andere an ihnen zweifeln. Diese hinterlistigen Menschen sind Meister darin, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Sie verstecken ihre wahren Gefühle des Hasses, der Eifersucht sowie unangemessene Gefühle hinter vorgetäuschter Fürsorge, Freundlichkeit, Liebe, Besorgnis und Begeisterung. Auf diese Weise erlangen sie Macht und leiten schließlich unsere Organisationen, Unternehmen, Schulen und unser Leben. Die traurige Wahrheit ist, dass wir uns alle davon täuschen lassen. Das liegt daran, dass wir in unserer Kindheit unseren Eltern und engen Verwandten vertraut haben. Wir hatten keinen Grund, ihnen nicht zu vertrauen. In diesem Modus handeln wir dann für den Rest unseres Lebens. Dies gilt möglicherweise nicht für diejenigen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden. Ihnen fällt es schwer, anderen zu vertrauen. Im Allgemeinen sind wir jedoch geneigt zu glauben, dass die Menschen in ihrem Umgang mit uns „transparent“ sind.

Darüber hinaus hat das Aufkommen sozialer Medien die Komplexität der Transparenz von Gesichtsausdrücken noch erhöht. In der digitalen Welt kümmern sich die Menschen akribisch um ihre Online-Persönlichkeit. Sie präsentieren der Welt die idealisierte Version ihrer selbst. Mit bearbeiteten Fotos und sorgfältig formulierten Bildtexten werden wahre Emotionen verschleiert. Eine Fassade von Glück und Erfolg wird aufrechterhalten. Scrollen wir durch unsere sozialen Netzwerke, werden wir mit geschönten Darstellungen der Realität überflutet, die die Trennlinie zwischen Authentizität und Künstlichkeit weiter verschwimmen lassen.

Zudem haben kulturelle Normen und gesellschaftliche Zwänge einen tiefgreifenden Einfluss auf Gesichtsausdrücke und emotionale Gesten. In einigen Kulturen werden offene Gefühlsäußerungen missbilligt, sodass viele ihre wahren Gefühle hinter einer stoischen Fassade verbergen. Umgekehrt werden in anderen kulturellen Kontexten übertriebene Gefühlsäußerungen verwendet, um sozialen Status oder die Konformität mit gesellschaftlichen Normen zu signalisieren. Diese kulturellen Unterschiede verdeutlichen die subjektive Natur der Deutung von Gesichtsausdrücken und stellen ihre Allgemeingültigkeit in Frage.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Betrachtungsweise des Gesichts als Spiegel des Geistes in manchen Kontexten angemessen sein mag. Sie kann jedoch die Komplexität der menschlichen Emotionen und die Feinheiten der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht vollständig erfassen. Indem wir die Grenzen der Mimik als verlässlichen Indikator innerer Gedanken und Gefühle erkennen, können wir ein tieferes Verständnis für uns selbst und andere entwickeln. Wir können auf diese Weise oberflächliche Urteile überwinden und echte Beziehungen auf der Grundlage von Empathie und Authentizität pflegen. Sobald wir uns auf die Nuancen emotionaler Ausdruckweisen einlassen, können wir die Feinheiten menschlicher Interaktionen mit mehr Empathie und Einsicht begreifen. Auf diese Weise können wir unsere Beziehungen bereichern und unser kollektives Verständnis der menschlichen Existenz vertiefen.

 

 

 

 

 

Notify me of new articles

Post comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *

  • Satyanarayana Dasa

    Satyanarayana Dasa
  • Daily Bhakti Byte

    Jealousy remains invisible, unlike how anger manifests. You only want to take help for emotions that are visible. Thus we don’t ask help to get rid of jealousy.

    — Babaji Satyanarayana Dasa
  • Videos with Bababji

  • Payment

  • Subscribe

  • Article Archive

  • Chronological Archive

© 2017 JIVA.ORG. All rights reserved.