Im Jahr 2012 probierte ich etwas aus, über das ich schon seit vielen Jahren nachgedacht hatte. Zusammen mit zwölf meiner Schüler mietete ich im Sommer für eine Woche ein Haus in der Schweiz und praktizierte Japa-Meditation, so wie sie in der Bhakti-Shastra beschrieben ist. Wir hatten keinen Kontakt zur Außenwelt (d. h. kein Telefon oder Internet) und wir kochten unser eigenes Essen. Die Ergebnisse waren sehr ermutigend. Dieses Jahr kamen wir für zwei Wochen zusammen, übten Japa-Meditation in der ersten Woche und studierten Bhakti-Shastra in der zweiten. Wir waren dreißig Personen und jeder spürte eine Veränderung in seinem Bewusstsein.
Allerdings war es für Anfänger etwas schwierig, sich einen ganzen Tag lang mit Japa oder dem Hören von Bhakti-Shastra zu beschäftigen. Nach dieser Erfahrung habe ich beschlossen, verschiedene Svadhyaya-Retreats für Praktizierende unterschiedlicher Levels anzubieten. Der Begriff Svadhyaya (wörtlich „Selbststudium oder Selbstbeobachtung”) bezieht sich sowohl auf das Studium von Shastra als auch auf das Chanten eines Mantras. Ich bezeichne es als Vergnügung (treat) und nicht als Rückzug (retreat – sich zurückziehen), denn das Wort „Vergnügung“ impliziert eine Aktivität, die Freude bereitet. Sie ist in der Tat wohltuend und ein Genuss für Geist, Verstand und Herz. Sie ist auch eine Therapieform für Geist und Herz.
Warum Svadhyaya?
Die indischen Philosophiesysteme heißen Darshan. Das Wort Darshan wird oft mit „Philosophie“ übersetzt, aber diese Übersetzung wird der Bedeutung nicht ausreichend gerecht. Darshan bedeutet Vision, Vision der Realität, eine Art und Weise, die Realität zu sehen. Darshan ist auch eine Landkarte, die den Weg abbildet, den man geht, um eine Vision der Realität zu erhalten. Der Sinn eines Darshan besteht nicht nur darin, ein theoretisches oder vages Verständnis der Realität zu vermitteln, sondern diese tatsächlich intuitiv zu erfassen. Zu jedem Darshan gehört daher ein (erkenntnistheoretischer und ontologischer) theoretischer Teil sowie eine entsprechende Praxis (Sadhana), um den Darshan (das Erleben), der beschriebenen Realität zu erlangen.
Spiritualität ist der Weg der Erleuchtung. Man muss ein klares Bild vom Weg und vom Ziel haben, um erfolgreich zu sein. In der Maitrayani Upanisad (6.22) heißt es: „Wer in der Shastra (Sabda-Brahma) gelehrt ist, erreicht die Höchste Realität (Para-Brahma)“.
Eine Praxis, die nicht auf der richtigen Bedeutung von Shastra beruht und nicht auf diese ausgerichtet ist, wird nicht das gewünschte Ergebnis hervorbringen:
yaḥ śāstra-vidhim utsṛjya vartate kāma-kārataḥ
na sa siddhim avāpnoti na sukhaṁ na parāṁ gatim
„Wer die Vorschriften der Schriften missachtet und launisch handelt, erreicht weder Vollkommenheit noch Glück, noch das höchste Ziel.“
tasmāc chāstraṁ pramāṇaṁ te kāryā kārya-vyavasthitau
jñātvā śāstra-vidhānoktaṁ karma kartum ihārhasi
„Deshalb sind allein die Schriften maßgebend, wenn es darum geht, was zu tun und was zu unterlassen ist. Du solltest in dieser Welt nur dann handeln, wenn du die Anweisungen der Schriften kennst.“ (Bhagavad Gita 16.23,24)
Manche Sadhakas behaupten, dass die Kenntnis der Schriften Jnana sei und nichts mit Bhakti zu tun habe. Dies ist ein grober Irrtum. Das Wort Jnana (wörtlich Wissen) hat verschiedene Bedeutungen. Neben seiner wörtlichen und allgemein verbreiteten Bedeutung wird dieser Begriff auch für einen der drei Hauptwege des Yoga, sprich Karma-Yoga, Jnana-Yoga und Bhakti-Yoga, verwendet. Im Zusammenhang mit Jnana-Yoga bezieht sich der Begriff auf das Verständnis, mit Brahman völlig identisch zu sein. Ein solches Jnana ist für Bhakti überhaupt nicht förderlich und wird von Devotees abgelehnt. Das Wort Jnana wird aber auch für Wissen verwendet, das sich auf ein beliebiges Thema oder Objekt bezieht. Daher ist Jnana in Bezug auf Bhakti nicht dasselbe wie Jnana im Sinne von Jnana-Marga. Sonst hätten sich Jiva Gosvami und andere Acaryas nicht die Mühe gemacht, Bände über Bände an Literatur zu verfassen. Sie schrieben diese Bücher, um den Weg und das Ziel von Bhakti zu erläutern. Sie schrieben sie nicht, um Geld zu verdienen. Damals gab es noch keine Druckereien und keine Buchhandlungen. Diese Acaryas waren bezüglich des Unterschieds zwischen Bhakti und Jnana sicherlich nicht verwirrt.
Jnana oder Wissen im Zusammenhang mit Bhakti ist ebenfalls Teil von Bhakti. In der Tat ist Hören, das das Studium von Shastra einschließt, die erste Säule des Bhakti-Yoga. Daher sollte das Studium der Bhakti-Shastra nicht mit dem Jnana des Jnana-Yoga verwechselt werden. Selbst Sri Chaitanya Mahaprabhu hörte die Erläuterungen des Srimad Bhagavata von Sri Gadhara Pandita, als er in Puri wohnte.
Dann gibt es andere, die der Meinung sind, dass es nicht nötig sei, Shastra zu studieren, da Bhakti, z. B. das Chanten des Mahamantra, selbst alles offenbaren würde. Hier stellen sich zwei Fragen. Die erste lautet: Wie können sie das wissen? Entweder wissen sie es aus Shastra oder von irgendwo anders her. Falls sie es aus Shastra wissen, dann akzeptieren sie erst einmal die Bedeutung des shastrischen Wissens und stimmen mit uns überein. Dann stellt sich jedoch die Frage: Lehrt Shastra nur so viel? Natürlich nicht. Warum sollten sie also davon absehen, den Rest zu studieren? Verlangt Shastra nur diesen einen Teil zu lesen und verbietet ihnen, den Rest zu studieren? Das ist sicherlich nicht der Fall. Da sie die Autorität von Shastra akzeptieren, müssen sie die Schriften studieren, da sie ansonsten in Namaparadha verwickelt wären. Wenn jedoch ihre Meinung, dass Bhakti alles offenbart und es daher nicht notwendig ist, zu studieren, nicht auf Shastra basiert, dann ist sie nicht seriös und sollte verworfen werden.
Die zweite Frage lautet: Wie können sie ohne das Studium der Shastra wissen, was Bhakti ist und wie man es richtig praktiziert? Bhakti ist keine materielle Tätigkeit und daher kann das Wissen darüber nicht durch materielle Mittel erlangt werden. Authentisches Wissen über Bhakti kann nur aus Shastra gewonnen werden. Daher ist es dringend notwendig, Bhakti-Shastra zu studieren.
Die eigene Praxis muss auf das richtige Verständnis des Ziels abgestimmt sein. Auf dem Yoga-Weg wird das Üben einer falschen Haltung (Asana) oder von falscher Atmung (Pranayama) dem Körper im Laufe der Zeit sicherlich Schaden zufügen. Ebenso wird ein falsches oder unvollständiges Verständnis des Ziels und die Praxis, die auf einem solchen unvollständigen Verständnis oder Missverständnis beruht, nicht zum gewünschten Ergebnis führen, sondern können vielmehr geistige und spirituelle Schwierigkeiten verursachen. Regelmäßiges, unsachgemäßes Üben wirkt sich langsam, aber zunehmend beträchtlich aus.
Millionen von Menschen praktizieren den Weg von Bhakti, doch nur wenige scheinen ihr gewünschtes Ziel zu erreichen oder ihm nahe zu kommen – selbst nach jahrzehntelanger Praxis. Ich kann mich irren und würde mich freuen, wenn sich das bestätigt, aber meine Erfahrung sagt etwas anderes. Wenn ein seriöser Geschäftsmann keinen Erfolg hat oder ein Sportler sein angestrebtes Ziel nicht erreicht, dann wird er über die Gründe nachdenken und versuchen, sich selbst zu verbessern. Er wird einen Experten oder einen Coach auf seinem Gebiet zu Rate ziehen. Wären wir ein erfolgloser Geschäftsmann oder Sportler, würden wir das Gleiche tun. Aber auf dem Gebiet der Spiritualität denken wir: „Irgendwie werde ich es schon schaffen. Ich brauche mir darüber keine großen Sorgen machen. Wie auch immer, es geschieht alles aus Gnade und Gnade geschieht grundlos.“ Wir sind nicht einmal bereit, unsere gottgegebene Intelligenz und unser Unterscheidungsvermögen einzusetzen, die wir so oft für materielle Zwecke nutzen.
Ohne Anstrengung gibt es keine Gnade. (There is no grace without a race.) Und ein Rennen muss mit großer Achtsamkeit gefahren werden. Dies ist die Botschaft der Geschichte, in der Krishna von Mutter Yashoda nach schwerer Anstrengung gebunden wird. Daher sollte ein aufrichtig Suchender der Ursache für die Verzögerung in seinem Fortschritt auf den Grund gehen. Der wahrscheinlichste Grund ist, dass man nicht richtig praktiziert. Richtiges Üben ist nur möglich, wenn man sowohl den Prozess als auch das Ziel richtig versteht. Aus diesem Grund haben unsere Acaryas die Bhakti-Shastra sowie die Sat Sandarbhas zusammengestellt, um sowohl den Prozess als auch das Ziel ganz deutlich zu machen.
Daher ist das „Verwöhnen“ mit Svadhayaya Japa und Shastra ein Versuch, den Bhakti-Weg richtig zu verstehen und zu praktizieren und unser Leben erfolgreich zu machen.