Viveka – Das richtige Unterscheidungsvermögen

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Das Wort „Diskriminierung“ – wie Viveka manchmal übersetzt wird – hat einen negativen Beiklang, weil wir es sehr oft in negativem Zusammenhang gebrauchen; Beispiele sind „Rassendiskriminierung“, „Kastendiskriminierung“, „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“, usw. Infolgedessen hört man häufig Ratschläge gegen Diskriminierung. Uns wird empfohlen, alle gleich zu behandeln, ohne über Wert oder Charakter zu urteilen. Diese Ideale gelten als sehr edel, werden jedoch weitgehend nicht in die Tat umgesetzt. Selbst diejenigen, die dies tun, tun es nicht immer, weil jeder in gewissem Maße urteilt und diskriminiert — es ist vielmehr die eigentliche Funktion des Intellekts zu diskriminieren und Urteile zu fällen. Eine Person mit Intellekt zu bitten, keine Urteile zu fällen, kommt dem gleich, eine Person mit Ohren darum zu bitten, nicht zu hören.

Im Grunde genommen müssen wir Urteile fällen und können ohne sie nicht leben. Wenn ein Mann am Flughafen eine Damentoilette betritt, sorgt das für Aufruhr. Wenn Sie Ihr Auto auf einem Behindertenparkplatz parken, werden Sie mit einer Geldstrafe belegt. In bestimmten Ländern können Sie den Kopf verlieren, wenn Sie Ihren Partner in der Öffentlichkeit küssen. Man muss also je nach Situation die richtigen Entscheidungen treffen und Urteile fällen. Wir müssen die Männertoilette von der Damentoilette zu unterscheiden wissen, den regulären Parkplatz vom Behindertenparkplatz, den akzeptablen Platz für romantische Bekundungen vom inakzeptablen Platz.

Nicht jede Diskriminierung ist negativ. Es muss dabei keine Beleidigung, Herablassung oder Herabsetzung vorkommen.

In der indischen Philosophie wird Unterscheidungsvermögen oder Diskriminierung Viveka genannt und als eine Eigenschaft betrachtet, das zum Erlangen spirituellen Fortschritts erarbeitet werden muss. Das Wort Viveka ist eine Ableitung von der sprachlichen Wurzel √ vicir, was „trennen“ oder „den Unterschied zwischen zwei Objekten, Qualitäten oder Aktivitäten sehen“ bedeutet. Viveka ist die Grundlage für das richtige Urteilsvermögen, für rechtes Verständnis, Unterscheidungsvermögen, usw. Auf dem Weg der Erkenntnis, Jñāna-Yoga, ist es eine der vier Eigenschaften eines Schülers.

Diskriminierung wird erforderlich, sobald zwei Dinge miteinander auf eine Weise vermengt sind, die eine Differenzierung schwer macht. Es ist einfach zwischen Tag und Nacht oder Schwarz und Weiß, jedoch schwierig zwischen Grautönen zu unterscheiden. Im Leben sind das Unendliche und das Vergängliche auf gleiche Weise miteinander vermengt. Daher bezieht sich Viveka in der Spiritualität auf die Fähigkeit zwischen Wirklichem und Unwirklichem, Unendlichem und Endlichem, Selbst und Nicht-Selbst, materiellem Genuss und Glückseligkeit zu unterscheiden. Demnach ist Viveka eine spirituelle Praxis zur Erkenntnis der Wahrheit.

In Jñāna-Yoga ist es eines der Schlüsselelemente zur Erlangung von Mokṣa oder Befreiung. Der große Hindu-Philosoph Ādi Śaṅkara schrieb ein berühmtes Gedicht mit dem Titel Viveka-Cūḍāmaṇi (Das Kronjuwel der Diskriminierung), in welchem er Viveka und dessen Wichtigkeit auf dem Weg zur Befreiung beschrieb. Er definiert Viveka wie folgt:

brahma satyaṃ jaganmithyetyevaṃrūpo viniścayaḥ
so’yaṃ nityānityavastuvivekaḥ samudāhṛtaḥ                                                        

Das konkrete Verständnis dessen, dass Brahman real und das Universum nicht real ist, wird als Diskriminierung (Viveka) zwischen unendlichen und vergänglichen Objekten bezeichnet.

Obwohl Viveka auf dem Weg des Jñāna-Yoga von äußerster Bedeutung ist, hat es seinen Stellenwert auch bei anderen Strömungen, wie YogaKarma und Bhakti, da all diese Traditionen auf der Grundlage aufbauen, dass das Selbst sich vom physischen Körper und dem Verstand unterscheidet. Dies ist die grundlegendste Lehre Kṛṣṇas zu Beginn der Bhagavad-Gītā. All diese Traditionen glauben, dass die grundlegende Ursache unseres Leids Unkenntnis unserer wahren Identität als das Selbst ist. Aus Unwissenheit betrachten wir uns als den physischen Körper, der den Verstand inne hat. Wir werden derart konditioniert. Die Folge ist ständiges Leid mit jeder Wiedergeburt. Dies ist die grundlegende Ursache allen Übels in der Gesellschaft. Mit anderen Worten, all diese spirituellen Traditionen glauben, dass die Unfähigkeit zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst zu unterscheiden, die Wurzel all unserer Probleme ist und, dass Viveka daher für einen spirituell Suchenden, ganz unabhängig von seiner Tradition, eine sehr wichtige Eigenschaft ist.

Viveka entwickeln

All unsere Entscheidungsfindungen beinhalten Viveka, auch im täglichen Leben. Wir brauchen Viveka für gute zwischenmenschliche Beziehungen in der Familie, mit Freunden, Arbeitskollegen und in der Gesellschaft, da wir nicht alle auf dieselbe Weise behandeln können. Unsere Kinder behandeln wir nicht genauso wie unsere Eltern. Unsere Untergebenen behandeln wir anders als unseren Vorgesetzten.

Viveka ist auf Weisheit begründet. Mithilfe unserer Weisheit entscheiden wir, was förderlich ist und was nicht. Unterweisung vermittelt Weisheit, Moral und Ethik und entwickelt unser Unterscheidungsvermögen, sodass wir zuträgliche Entscheidungen treffen können. Viveka wird somit durch achtsame Unterweisung und kritische Prüfung eines Ereignisses oder einer Situation unter Einsatz logischen Denkens und Analyse entwickelt.

Die Zweckdienlichkeit von Viveka

Viveka hilft uns dabei, Prioritäten zu setzen und an unserem Vorhaben festzuhalten. Durch Viveka können wir dem Wichtigeren den Vorrang geben. Viveka macht uns somit als Individuen einzigartig. Ohne Viveka folgen wir lediglich wie ein Schaaf der Massenmentalität.

Viveka ermöglicht es uns, auch schlechte Angewohnheiten loszuwerden. Angewohnheiten entstehen, indem man eine Handlung wiederholt, die einem Genuss bereitet hat. Es handelt sich um eine schlechte Angewohnheit, wenn dieses Vergnügen einen ungebührlichen Preis hat. Der Verstand wird von sich aus nicht mit dieser Angewohnheit brechen, weil er immer nach Genuss und Vergnügungen strebt, dies ist seine gewohnte Weise. Kṛṣṇa erklärt, dass Unterscheidungsvermögen dem Verstand übergeordnet ist (Gītā 3.42), da ausschließlich Viveka uns erlaubt, zu sehen: „Warte mal, dies führt eigentlich zu mehr Schaden als Nutzen.“ 

Eine Person mit starkem Viveka sieht die Neigungen des Geistes (Vorlieben und Abneigungen, Ängste und Wünsche) als vergänglich und das Selbst als dauerhaft an. So ist er nicht ganz den Neigungen des Verstandes ausgeliefert und kann die Kraft aufbringen, diese zu ändern und neue Gewohnheiten zu entwickeln.

Aus diesem Grund wendet eine unterscheidende Person schließlich ihre Aufmerksamkeit von der Welt der Objekte ab und konzentriert sich auf das Selbst. Dies ist der Haupt-Sādhana des Jñāna-Yoga. Solange das Unterscheidungsvermögen nicht perfekt ist, wird sich der Mensch in der Welt der vergänglichen Freuden und Leiden verfangen. Wenn wir das Selbst oder die Absolute Realität als das Wichtigste verstehen, werden sich unsere Bemühungen ganz natürlich darauf richten, dieses Selbst zu erkennen. Dies ist nur möglich, wenn wir unser Viveka richtig einsetzen.

Viveka führt zu Vairāgya

 

Viveka bringt somit Vairāgya (“Leidenschaftslosigkeit”) hervor. Das Wort Vairāgya bedeutet Freiheit von Rāga, und Rāga bedeutet Leidenschaft oder Anhaftung. Der Verstand wird von Rāga (und dessen Gegenstück, Dveṣa) bestimmt.

Anhaftung ist der Impuls an einem bestimmten Objekt oder einer Aktivität festzuhalten. Der Verstand konzentriert sich ganz natürlich auf die Objekte, an die er gefesselt ist. Je intensiver die Anhaftung ist, desto tiefer meditiert der Verstand über dieses Objekt oder diese Aktivität. Daher wird der Verstand einer Person unter dem Einfluss von Rāga und Dveṣa ständig angetrieben und angezogen und kann nicht wahrhaft friedvoll und frei sein.

Man mag sich fragen, ob es überhaupt möglich ist, frei von Vorlieben und Abneigungen zu sein: Solange wir Sinne haben, werden diese Anziehung und Abstoßung durch bestimmte Objekte erfahren. Selbst eine befreite Person hat daher bestimmte Vorlieben und Abneigungen hinsichtlich des Essens. Die Antwort ist, dass Vorlieben und Abneigungen zu haben, kein Problem darstellt. Das Problem liegt darin, Anhaftung an sie zu entwickeln. Der Verstand eines befreiten Menschen ist nicht an seine Vorlieben und Abneigungen gefesselt. Er wird nicht unruhig, ob er sie nun hat oder auch nicht. Er bleibt im Gleichgewicht. Er wird nicht von ihnen gesteuert. Wenn er den Geschmack eines bestimmten Gerichts mag, es aber nicht bekommt, wird er dadurch nicht unruhig. Andererseits wird ein gewöhnlicher Mensch durch seine Vorlieben und Abneigungen gefesselt. Sie sind für ihn eine Art Sucht und wenn sie ihm nicht zugeführt werden, fühlt er sich elend. Erleuchtet oder befreit zu sein bedeutet also nicht, dass man keine Vorlieben oder Abneigungen hat. Es bedeutet auch nicht, dass eine befreite Person keine Emotionen hat. Sie ist nicht ein Steinbrocken. Sie hat Wünsche und Emotionen, hat sie aber im Griff. Sie wird nicht von ihnen gesteuert.

Zufälliges und wahres Vairāgya

Es gibt zwei Arten von Vairāgya. Die erste Art ist zufälliges oder kausales Vairāgya. Manchmal wird es ŚmaśānaVairāgya oder die „Leidenschaftslosigkeit, die bei der Teilnahme an einer Beerdigung entsteht“ genannt. Diese Art von Vairāgya entsteht durch Leid oder dem Einfluss bestimmter Lebenssituationen, wie einem Todesfall in der Familie. Dies ist keine bleibende Leidenschaftslosigkeit, da das Vairāgya verschwindet, sobald sich die Situation ändert. Der Verstand einer Person in zufälligem Vairāgya wartet darauf zu genießen, was er zuvor aufgegeben hat. Sobald sie die Gelegenheit erhält, stürzt sich die Person ins Vergnügen. Ihr wahres Gesicht kommt zum Vorschein und sie kehrt zu ihrem früheren Zustand zurück. Genau genommen genießt sie nun noch intensiver, da ihre Sinne ausgehungert waren.

Die zweite Art von Vairāgya basiert auf Viveka, Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen. Wer dieses Vairāgya hat, gibt die Objekte sinnlichen Genusses auf, denn er weiß, dass es sich um eine Illusion handelt. Diese Art von Vairāgya ist stabil und führt zu spirituellem Fortschritt. Solch eine Person wird ihre spirituelle Praxis nicht aufgeben und nicht zu den Sinnesfreuden zurückkehren.

 

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